Gor Chahal, Stages/Trisvyatoe (2005/2019)
Gor Chahal gilt mit seinen in den 80er Jahren entstandenen virtuellen Skulpturen als einer der frühesten russischen Medienkünstler. Er wurde 1961 als Sohn einer russischen Mutter und eines armenischen Vaters in Moskau geboren und schloss ein Studium in angewandter Mathematik ab. Er gründete in den 80er Jahren in der Moskauer Off-Szene mit dem Poeten Arcady Semenov und der Rockband „Polite Refusal“ die Gruppe „Parallel Actions“, in der Rockmusik und poetische Performances miteinander verschmolzen. Nach „Pure-Art-Performances“, an denen keine Besucher teilnehmen konnten und die auch nicht dokumentiert wurden, wandte er sich schließlich spirituellen Traditionen zu und entdeckte die Ikonenmalerei seiner Heimat und ihre Theologie für sich. Intensiv setzte er sich mit der Tradition des Hesychasmus und den Lehren seines bekanntesten Vertreters, des griechischen Mönches Gregor Palamas (1296-1359) auseinander. Die bereits im 12. Jahrhundert nachweisbaren Hesychasten versuchten in einer speziellen Meditationspraxis durch Anhalten des Atems mit dem Kinn auf der Brust unaufhörlich das Jesusgebet zu wiederholen. Diese Übung führt nach Überlieferung der Vertreter dieser ostkirchlichen mystischen Tradition zur ἡσυχία (Hesychia), zur inneren Schau des unerschaffenen Lichtes Gottes, das Christus auf dem Berg Tabor umstrahlte.
In seinem 2005 entstandenen Video „Stages“, das sich auf das „Taborlicht“ bezieht, entfaltet die ins Unendliche geschriebene Buchstabenfolge der Anrufungen Gottes in kyrillischer Schrift eine raumgreifende Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann. „Heiliger Gott, Heiliger starker (Gott), heiliger unsterblicher (Gott), erbarme dich unser“, lautet das sogenannte Trishagion (Trisvyatoe), der Lobpreis des dreifaltigen Gottes. Seit der dem Theologen Proklos von Konstantinopel zugeschriebenen Einführung hat es einen entscheidenden und festen Platz in der ostkirchlichen Liturgie. Eine Legende erzählt, das Trishagion sei dem Hl. Proklos (390-447) während einer Reihe schwerer Erdbeben als Gesang der Engel im Himmel offenbart worden.
Gor Chahal geht es um die Annäherung und Verbindung von Religion und Kunst, Individuum und Gesellschaft, Ethik und Ästhetik durch die Macht der Schönheit, die der Kunst innewohnt. Für die Präsentation bei KLANGLICHT 2019 werfen zwei Projektoren an der „Porta Coeli“, dem schmalen gotischen Bogen zwischen Kirchenschiff und Presbyterium der Grazer Stadtpfarrkirche jeweils ein bewegtes Bild in das Presbyterium und in den Chor der Kirche. Das Video wurde um eine Sound-Installation erweitert, die aus der Verschneidung eines Gesangstückes des russischen Avantgardekünstlers und Musikers Alexei Khvostenko (1940-2004) und eines gesprochenen Textes des russisch-orthodoxen Theologen John Meyendorff (1926-1992) über das theologische System von Gregor Palamas besteht. Der von Khvostenko in der Art eines orthodoxen Kirchengesang vorgetragene Text erinnert in der Repetition von Sätzen und Satzteilen an meditative Gebetspraktiken, durch Verschränkung und Überlagerung von Satzteilen und den Austausch von Wörtern und die Aufgabe einer erkennbaren Syntax verliert er sich aber bewusst in ein Wortgeflecht ohne erkennbaren Sinnzusammenhang. Die von Khvostenkos musikalischem Partner Kamil Tchalaev gemachte Tonaufnahme ist in Graz erstmals öffentlich zu hören. Sie repräsentiert die Opposition der Avantgarde in der kommunistischen Sowjetunion. Gor Chahal fand über die Opposition zum politischen System den Weg zu den spirituellen Traditionen seiner Heimat und schafft in der Grazer Stadtpfarrkirche einen Klang- und Lichtraum als Dialogbühne von agnostischer Avantgardekunst und uralten spirituellen Traditionen. (Alois Kölbl)